Zum Taschentuch gibt es auch einen interessanten Artikel von Dr. Birgitta Unger-Richter in ihrem Blog Kreisheimatpflege Dachau:
https://heimatpflege-dachau.de/2018/06/27/haaatschi/
Im Anfang war die Hand
Der notwendige, aber häufig unbeachtete Gegenstand, entstand vermutlich 200 v. Chr. im antiken Rom und ca. 300 Jahre später in China aus Hanfpapier. Sein weiterer Weg führte über Byzanz und das Flandern des 13. Jh.
Glanz aus dem Süden
Die Wiedergeburt des Taschentuchs liegt in einer der Oberitalienischen Städte während der Renaissance. Dieses fazzoletto war ungeheuer kostbar und weniger für den heftigen Schnupfen gedacht, denn als Prestigeobjekt oder soziales Unterscheidungsmittel. Der Verlust eines fazzolettos konnte eine Tragödie heraufbeschwören. Man denke nur an Shakespeare’s Othello .
Die Straßen stinken…
…z.B. in Paris im Jahre 1750, wie die Pest; man hält sich besser ein Taschentuch vor die Nase. Aber genau an diesem Ort beginnt unsere moderne Hygiene. 1794 wird in Paris der erste Lehrstuhl für öffentliche Hygiene geschaffen. Zusammenhänge zwischen Ursache und Wirkung von Krankheiten werden ab diesem Zeitpunkt systematisch untersucht.
Im 18. Jh. wurden Verhaltensweisen als peinlich empfunden, die bis dahin nichts Peinliches an sich hatten. Bei Tisch z.B. sollte das Schneuzen, wenn irgend möglich, vollständig unterbleiben. Ab dem 19. Jh. wird das praktische Schnupf- und Sacktuch im halben oder ganzen Dutzend angeschafft und gewinnt neue Funktionen hinzu, etwa als Schmucktuch fürs Gesangbuch, beim Einwickeln, als schützendes Halstuch, als einfache Kopfbedeckung oder als magischer Abwehrzauber
Um 1805 trifft der Bäckergeselle Christian Wilhelm Bechstedt bei einer Gesellenwanderung einen Weggefährten, der war „ein edler Jüngling von 15 Jahren, dem ich ein Taschentuch wünschte, da er Lichter auf der Oberlippe zog“.
Kolumbus sah 1492 bei seiner Landung auf Kuba, Eingeborene gerollte Tabakblätter rauchen. Der französische Gesandte am portugiesischen Hof Jean Nicot schickte um das Jahr 1560 Katharina von Medici Tabakpulver gegen Migräne. Als poudre de la reine kam der Tabak in höfischen Gebrauch und wurde geschnupft. Für den kultivierten Menschen des Rokoko war der Vorgang des Tabakschnupfens ein äußerst bedeutsames Zeremoniell im gesellschaftlichen Umgang. Der Gebrauch von Schnupftabak nahm seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stetig ab.
War das Taschentuch noch bis ins 19. Jh. hinein Luxusgegenstand und Statussymbol, so wurden durch die erste industrielle Revolution die Weichen für seine massenhafte Verbreitung gestellt. Durch die Erfindung der Maschinen zur Verarbeitung von Baumwolle sank der Preis für Baumwollstoffe zwischen 1780 und 1850 um 85%. Taschentücher wurden für jeden erschwinglich.
Meine Taschentücher und nur die
Wilhelm von Humboldt schreibt 1815 aus Paris an Caroline: „Die Sachen, die ich Dir schicke, sollen Dir, denke ich, gefallen. Du kriegst nun 12 gestickte Schnupfttücher mit „v.H“ zu 132 Franken…“. Bekannt gewordene Verluste von Taschentüchern am 30. Dezember 1842: zwei ganze und ein halbes Dutzend, die durch ihre Zeichnung, „Amalie mit einer Krone“, „Marie mit einer Krone“, „A.v.R“ und „M.v.R“ die Herkunft aus einem adeligen Wäscheschrank verraten. Walter Stengel: Guckkasten Altberliner Curiosa, Berlin 1962
Libertinage der Nase
Was wir Schnupfen nennen, wird durch Rhinoviren verursacht, die an einem Rezeptor der Schleimhaut ankoppeln. In der Zelle bricht die Eiweißhülle auf und das Erbmaterial wird freigesetzt. Nach zwei Tagen ist die Zelle verbraucht, platzt und setzt neu Viren frei. Jetzt wird die Körperabwehr aktiv. Das Gewebe schwillt an und die Schleimproduktion läuft auf vollen Touren. Erst am siebten Tage kann unsere Immunabwehr die ersten Antikörper bilden.
Obwohl wir, verglichen mit unseren tierischen Verwandten, über einen schlechten Geruchssinn verfügen, prägt er unser Urteil stark. Wenn wir jemanden „nicht riechen können“, ist kaum eine Korrektur möglich und man braucht keine Charakternase zu haben, um als hochnäsig oder naseweis zu gelten.
Nur weiß muss es sein
Das Taschentuch ist fast von Anfang an fester Bestandteil der Modegraphiken. Mit anderen Acessoires wie Handschuhen, Okular, Taschen, Fächern, Schirmen und Blumensträußen, hält die Dame des Biedermeiers es in den Händen. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts gab es neben weißen auch bunte und bedruckte Tücher. Im 19. Jahrhundert, passend zu Kleidern im Empire-Stil, tauchen weiße Taschentücher in großer Zahl auf.
Kurz nach dem ersten Weltkrieg im städtischen Raum: bei den Herren wandert das Taschentuch die Brusttasche des Sakkos, um als „Kokettierfetzen“ auch Einstecktuch genannt, keck einen Zipfel zu zeigen. Auch als Liebes- oder Ehepfand leistet es seit dem 17. Jahrhundert im europäischen Raum gute Dienste.
Tempo statt Eleganz
Papiertaschentücher bestehen aus Zellstoff, der durch Kochen von Holzschnitzeln in Chemikalienlösung gewonnen wird. Durch bleichen wird der Holzstoff Lignin entzogen. In Deutschland werden jährlich 39 Milliarden Papiertaschentücher verbraucht. Dies entspricht einem Gewicht von ca. 136367 Tonnen.
Gefaltete Künste
Taschentücher wurden von Beginn an gestaltet. Auch heute setzen sich Designer mit dem textilen Produkt auseinander. Zeitgenössische Künstler können „dem Stoff aus dem die Tücher sind“ Ungewöhnliches, Witziges und Tiefsinniges entlocken. http://www.museumdekantfabriek.nl/de/exposition/zakdoekkunst/
Der 120-seitige Ausstellungskatalog “Menschen, Nasen, Taschentücher” mit Beiträgen von: Martin Beutelspacher, Eckhard Bolenz, Alfred Doerig, Gabriele Donder-Langer, Claudia Gottfried, Kerstin Kraft, Markus Kuchler, Ingrid Riedmeier, Ben Witter, Harry Michael Zwergel, Herbert A. Zwergel und 44 ganzseitigen farbigen Abbildungen sowie Herrentaschentuch aus feinster Baumwolle mit Atlasrand in limitierter Auflage vom Luxushersteller Pelo (siehe das Buch „Deutsche Standards unter Taschentücher) ist leider vergriffen.